Prof. Dr. Marie-Luise Angerer
Geschäftsführende Direktorin des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften (ZeM), Potsdam (2016-2024)
Professur für Medientheorie/Medienwissenschaft im Studiengang Europäische Medienwissenschaft, Universität Potsdam / FH Potsdam (2015-2024)
Sprecherin des Forschungskollegs Sensing. Zum Wissen sensibler Medien (gefördert durch die VolkswagenStiftung, 2018-2023)
Forschungsschwerpunkt zum Begriff eines affektiv-digitalen Nichtbewussten.
Aktuelle Publikation
Nichtbewusst. Affektive Kurzschlüsse zwischen Psyche und Maschine, Turia & Kant 2022.
Marie-Luise Angerer (1958 – 2024) übernahm mit dem Wintersemester 2015/16 den Lehrstuhl für Medientheorie/Medienwissenschaft am Institut für Künste und Medien im Studiengang Europäische Medienwissenschaft. Sie war von 2000-2015 Professorin für Medien- und Kulturwissenschaft/Gender Studies an der Kunsthochschule für Medien Köln, von 1999-2000 Vertretungsprofessorin (Professur Gertrud Koch) am Institut für Film- und Fernsehwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum.
Sie studierte in Wien Kunstgeschichte, Romanistik, Philosophie und Kommunikationswissenschaften und unterrichte viele Jahre an den Universitäten Salzburg und Wien. Promotion 1983 mit einer Dissertation zu Sprache, Philosophie und Psychoanalyse: „Das Leben ist wunderbar! Sprachbefreiung durch ihre Normierung“.
Von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erhielt sie von 1994-1998 ein Habilitationsstipendium (APART), das es ihr ermöglichte, in den USA (San Diego und Santa Cruz), Australien (Sydney) und Kanada (Ottawa) zu forschen. Die Habilitation erfolgte 1996 zum Thema „Medienkörper. Produktion und Repräsentation von Geschlechtsidentitäten“ an der Universität Salzburg. Sie lehrte als Gastdozentin an der Central European University in Budapest, an der Universität der Künste Berlin sowie in Ljubljana und Zürich.
Nach langer, schwerer Krankheit ist Prof. Dr. Marie-Luise Angerer, bis dato amtierende geschäftsführende Direktorin des ZeM, am 02. März 2024 verstorben. Wir verlieren mit ihr eine herzliche, scharfsichtige und engagierte Kollegin und Freundin.
Ein Nachruf von Kathrin Peters in der Zeitschrift für Medienwissenschaft:
Peters, Kathrin: Verlust. Ein Nachruf auf Marie-Luise Angerer. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, 14. März 2024 , https://zfmedienwissenschaft.de/online/verlust.
Ein Nachruf von Karin Harrasser in TEXTE ZUR KUNST:
Harrasser, Karin: Marie-Luise Angerer (1958–2024). In: TEXTE ZUR KUNST, Heft Nr. 134 / June 2024 „Sculpture“, https://www.textezurkunst.de/de/134/karin-karrasser-marie-luise-angerer-nachruf.
Ein Nachruf von Marietta Kesting in Springerin:
Kersting, Marietta: Nachruf Marie-Luise Angerer 1958-2024. In: springerin, Heft 2/2024 „Kulturkämpfe“, https://springerin.at/2024/2/nachruf-marie-luise-angerer-19582024.
Nachruf auf ORF.at (03.03.2024)
Nachruf in der taz (05.03.2024)
Nachruf in Die Furche (06.03.2024)
Traueranzeige in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung (09.03.2024)
Traueranzeige im Tagesspiegel (16.03.2024)
Nachruf in der Zeitschrift für Medienwissenschaft (ZfM)
Nachruf auf Prof. Dr. Marie-Luise Angerer
Mit Marie-Luise Angerer haben wir eine herzliche, scharfsichtige und engagierte Kollegin und Freundin verloren. Ein Nachruf von Kathrin Peters in der Zeitschrift für Medienwissenschaft.
Kathrin Peters
Verlust
Ein Nachruf auf Marie-Luise Angerer
14.3.2024
Die nächste Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft trägt den Titel «Was uns ausgeht». Das Heft besteht aus einem Glossar, und alle Beteiligten waren eingeladen, Begriffe vorzuschlagen, die zu fassen versuchen, was es sein könnte, das uns ausgeht. Der Glossareintrag, den Marie-Luise Angerer zu dieser Gegenwartsdiagnose beigesteuert hat, lautet «Verlustkontrolle» – eine geradezu Angerer’sche Formulierung. Sofort öffnet sich ein Assoziationsraum und zugleich schnappt der Begriff immer wieder zurück in das Kompositum, aus dem er hervorgegangen ist, Kontrollverlust. Er führt uns an die Schwierigkeit heran, das Verhältnis von Verlust und Kontrolle zu denken. Denn ob die Wörter nun in der einen oder anderen Reihenfolge zusammengesetzt sind – je länger man versucht, ihren Bedeutungsbahnen zu entkommen, desto mehr zeigt sich, was Marie-Luise Angerer ein «poröses Phantasma» nennt.
In der psychoanalytischen Theorie ist ein Phantasma ein imaginäres Szenario, das die Leere des Subjekts auffüllt, es vom Realen abschirmt – zumindest solange dieser Schirm nicht durchlässig wird. Aber das ist er geworden: Für alle, die sehen und wissen wollen, ist unabweisbar, dass nicht mehr zu kontrollieren, nicht mehr in (eine) Ordnung zu bringen ist, was durch Klimakatastrophe, Kriege und politischen Autoritarismus verloren geht. Kein Digitalisierungsversprechen hilft mehr, die Einbußen zu überwachen. Eher sei die Vorstellung, dass digitale Technologien dies leisten könnten, noch Teil des Phantasmas.
In ihrem kurzen Artikel ist zu lesen, was Marie-Luise Angerers Schreiben auszeichnet: medientheoretische, politische und künstlerische sowie immer wieder psychoanalytische Bezüge miteinander zu verweben und auf diese Weise Ambiguitäten, womöglich Verdrängungen, herauszuarbeiten. Das gilt für ihre jüngeren Überlegungen zu Affekt, in denen sie das Unbewusste gegen die Biologisierung von Gefühlen in Anschlag bringt. In Das Begehren nach dem Affekt (2007) – auch das eine Formulierung, die zweifach, sowohl präpositional als auch zeitlich zu lesen ist – argumentiert sie, dass die ausufernde Rede vom Affekt das Begehren als Movens des Subjekts, und schließlich den Affekt selbst, zum Verschwinden bringt. Entgegen solch reduktiven Ansätzen, die auch in medien- und gendertheoretischen Texten zu finden sind, kartiert sie in Affektökologien (2017) technologische Anordnungen und zeigt, dass es gerade dort zu affektiven Aufladungen kommt, wo eine Lücke klafft, nachdem das Begehren eskamotiert worden ist.
Marie-Luise Angerers Schriften zu Gender- und Körpertheorien, in denen sie seit den 1990er Jahren die damals – und wahrscheinlich auch heute noch – bahnbrechenden Texte erschlossen und weitergedacht hat (The Body of Gender, 1995), hallen nicht nur in ihren späteren Schriften, sondern auch in ihren Leser*innen nach. Ihre Diskussion des Verhältnisses von Materialität und Identität als einem, das nur als Bewegung, als wechselseitiges Verweisen sinnvoll verstanden werden könne, ist geeignet, auch aktuelle, irgendwie politische Aufwallungen zu verstehen. Einem Denken in fixen Identitäten und essentialistisch verstandenen Materialitäten hat Marie-Luise Angerer jedenfalls schon vor 30 Jahren eine Absage erteilt und stattdessen von Bildern im weitesten Sinne gesprochen, in denen Körper vor- und darstellbar werden, auch unsere Körper uns selbst. Für ein solches Konzept der body options (1999) ist die Auseinandersetzung mit (Medien-)Kunst und Film zentral, weil diese das Körperliche jenseits von Normativität, sogar jenseits von Körperschemata entwerfen. Das zu denken ist und bleibt herausfordernd. Aber Marie-Luise Angerers Vorträge, ihre Lehrveranstaltungen und ihre Texte waren ein Quell von Einsichten und eines Wissens, das nicht stillstand, sich immer erweiterte und Ohren und Augen geöffnet hat.
«Verlustkontrolle» ist einer der letzten Texte, die Marie-Luise Angerer geschrieben hat. Ihr Tod ist ein Verlust, der wahrlich nicht unter Kontrolle zu bringen ist. Sie hat nicht nur in ihren Texten, sondern auch in ihrem Leben unermüdlich Verknüpfungen zwischen Leuten, Orten und Institutionen hergestellt, Projekte und Publikationen angestoßen. «Verlustkontrolle» war bereits das Jahresthema des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften in Potsdam, dem sie vorstand. Nicht zuletzt hat sie das Projekt der Zeitschrift für Medienwissenschaft von Beginn an mit einem Engagement, das sie bei allem, was sie tat, auszeichnete, begleitet.
Vielen und auch mir war sie eine so wertvolle Kollegin, Mentorin und Freundin, dass sie aus unseren Leben nicht wegzudenken ist. Mag sein, dass das zu sagen schon den phantasmatischen Versuch darstellt, die Leere aufzufüllen, den unerträglichen Verlust verkraft- und kontrollierbar zu machen. Wahr ist es trotzdem.
Zeichnung von Katja Davar: Your Mobile Soul (3), 2019
Diese Arbeit wurde von Marie-Luise Angerer als Coverabbildung für den Sammelband Technologies of Containment. Holding, Filtering, Leaking ausgewählt. Das Buch erscheint 2024 bei meson press.
Quelle: Peters, Kathrin: Verlust. Ein Nachruf auf Marie-Luise Angerer. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, 14. März 2024.
Nachruf in Texte zur Kunst
MARIE-LUISE ANGERER (1958–2024) Von Karin Harrasser
Ihren letzten Text schrieb Marie-Luise Angerer über Verlustkontrolle, über die Zumutung des Verschwindens. Nun ist seit Kurzem auf Wikipedia zu lesen, sie sei eine deutsch-österreichische Medien- und Kulturwissenschaftlerin gewesen. Die Vergangenheitsform ist eine Zumutung. Noch etwas anderes hat sich kürzlich in dem Eintrag verändert: Wegbegleiter*innen haben sich in den Tagen nach ihrem Tod am 2. März 2024 mit Nachdruck darum gekümmert, dass ihre Doppelstaatsbürgerinnenschaft erwähnt wird. Sie selbst hatte sich sehr darum bemüht, denn als politisch wache Zeitgenossin wollte sie sowohl in ihrem Herkunftsland als auch an ihrem Wohnort Berlin wahlberechtigt sein. Die Bindestriche in deutsch-österreichisch, in Marie-Luise, in Medien- und Kulturwissenschaftlerin passen überhaupt sehr gut zu einer Denkerin des Dazwischen, die sie gewesen ist. Angerer war sowohl dem Bodenständigen als auch dem Abstrakten, dem Ländlichen wie dem Urbanen, der europäisch-kontinentalen wie auch der anglophonen Theorietradition verpflichtet. Im österreichischen Vorarlberg geboren, studierte sie in Wien Kunstgeschichte, Romanistik, Philosophie und Kommunikationswissenschaften. Aus diesen disziplinären Samen entwickelte Angerer ihr Interesse für zeitgenössische Kunst, für Sprache und Literatur, für Theorie und Medienwissenschaft. An der Ausformung einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft im deutschsprachigen Raum war sie als Theoretikerin, Lehrende und universitäre Akteurin wesentlich beteiligt.
Die Promotion der Wissenschaftlerin in den 1980er Jahren wies eine psychoanalytische und sprachphilosophische, also „wienerische“ Prägung auf. Ihre Habilitation mit dem Titel „Medienkörper. Produktion und Repräsentation von Geschlechtsidentitäten“ war hingegen beflügelt von ihrer Neugierde für die damals international aufblühenden feministischen, kritischen Technowissenschaften. Ein Auslandsstipendium ermöglichte es Angerer, sich mit diesen Theorietraditionen aus Kalifornien, Australien und Kanada auseinanderzusetzen und dann in ihr Wirken zunächst an der Universität Salzburg und später in Bochum, Köln und schließlich in Potsdam einzubringen. Als Avantgardistin verband sie dadurch die Wiener Theorietradition mit in Europa anfangs eher vom Hörensagen bekannten Denkströmungen. Und sie etablierte den Körper als Schauplatz medienwissenschaftlicher Forschung.
Ihre vielfältigen Interessen kulminierten in einem Gravitationszentrum, nämlich über das nachzusinnen, was uns in unseren Alltagshandlungen als Quelle und als Antrieb entgeht: Sigmund Freuds Unbewusstes, Michel Foucaults Dispositiv, Donna Haraways Cyborgs, Gilles Deleuze’ maschinische Affekte, Rosi Braidottis Nomad*innen. Ich wähle hier bewusst den Genitiv, eine Form, die Marie-Luise Angerer in ihren Theorietexten selbst oft verwendet hat: Konzepte und ihre Urheber*innen verzahnte sie mit einer grammatikalischen Form, die die Richtung der Zugehörigkeit unklar erscheinen lässt. Ist das Unbewusste eine Schöpfung Freuds oder Freud eine Schöpfung seines Unbewussten? Hat Haraway die Cyborgs erfasst, oder wurde sie von ihnen erfasst? Solche Rätselfiguren und Kippbilder sind willkommene Anlässe für ein Denken, das Heilsversprechen und Kontrollfantasien gleichermaßen misstraut. Weder begriff Angerer den Affekt – großes Thema ihrer Forschung der letzten Jahre – als ein Reich der Freiheit von sozialen und kulturellen Zwängen, noch wollte sie Sinnlichkeit und Empfinden als Angriffspunkte für kybernetische Optimierung und algorithmische Bewirtschaftung preisgeben. Bezeichnend für ihren Denkstil ist zudem ein Denken in Gesellschaft. Ihre Texte sind bevölkert mit anderen Theoretiker*innen, die sie zu Wort kommen lässt, deren Thesen sie zuspitzt, erweitert, abwandelt. Da gibt es kaum einen Satz, der sich nicht mit einer Denkperson und -figur auseinandersetzt. Aus diesem Muster schält sich jedoch immer ein engagiertes Eigenes heraus. Ein Denken, das historische Kontinuitäten und Paradigmenwechsel – etwa von der Sexualität zum Affekt als Leitidee – benennt und Sprünge in Form von begrifflichen Setzungen wagt: Angerers Nichtbewusstes, Angerers Affektökologien.
Die hohen theoretischen Einsätze ihrer Texte verdecken mitunter, dass Marie-Luise eine Verankerung intellektueller Arbeit im politischen und künstlerischen Zeitgeschehen wichtig war. Besonders in der Lehre wurde das sichtbar. Da wurden Kriegsberichterstatterinnen und Fotografinnen eingeladen, oder es gab kollaborative Lehrveranstaltungen zu weiblichem Widerstand und Erinnerungspolitik. Sie hat unzählige Menschen zusammengebracht, Freundschaften gestiftet und Studierende gefördert, das Gewebe von Medienwissenschaft und Medienkunst mit einem feministischen Kettfaden versehen.
Zwei Bewegungen verflochten sich in Angerers Wirken: ihr beharrliches Durcharbeiten von zentralen Problemen des Fachs und ihre Offenheit für Revision und Verzweigung. Überall war ihre Neugierde spürbar, die sich auch in Reisen und der Bereitschaft, sich auf zunächst fremde Kontexte einzulassen, zeigte. Unterwegs – auch so ein Dazwischen – hat sie sich wohlgefühlt. Vor Kurzem ist sie über jene Schwelle gegangen, die für uns Lebendige unerfahrbar bleibt, uns aber als Sterbliche verbindet. Marie-Luise Angerer hat uns so viel zu denken gegeben und sie wird der vielgestaltigen Community, die sie selbst mitgebaut hat, fehlen.
Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz.
Quelle: Harasser, Karin: Marie-Luise Angerer (1958–2024). In: TEXTE ZUR KUNST, Heft Nr. 134 / June 2024 „Sculpture“.